17. Sonntag nach Trinitatis

+09.10.2022+ Jesaja 49

Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 2Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. 3Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. 4Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott.5Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, 6er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.                                                                                                                                   Jesaja 49,1-6​

Liebe Gemeinde!

Wenn in Großbritannien ein neues Parlament gewählt worden und eine neue Regierung zustande gekommen ist, dann erlebt die Welt jedes Mal ein zwar veraltetes, aber glanzvolles Schauspiel. In der Vergangenheit zog die Queen in vollem Krönungsornat mit Krone ins Parlamentsgebäude ein und verlas vor den beiden Häusern die Regierungsrede. Darin wurde alles angekündigt, was in der neuen Regierungszeit geschehen soll. Das Ganze ist heutzutage freilich mehr oder weniger Theater. Denn in Wirklichkeit hat der englische Monarch keine Macht mehr und keinen Einfluss auf das Regierungsprogramm. Die Rede ist vom Premier verfasst und wird Wort für Wort nur verlesen.

Immerhin hat sich in dieser Zeremonie etwas erhalten, das früher sehr wohl einen ernsthaften Inhalt hatte: Der Thronfolger oder der neue Herrscher kündigten an, was er vorhatte und durchsetzen wollte. Die sogenannten Knechtgotteslieder des zweiten Jesaja sind nun auf diesem Hintergrund zu verstehen.Es wird eine neue Ära angekündigt, in der Gott ganz neue Akzente setzen wird. In Jesaja 42 stellt Gott selbst seinen Bevollmächtigten vor, so wie etwa ein Pharao Joseph dem Volk als seinen Vertrauten vorstellt, dem alle Vollzugsgewalt im Lande übergeben ist: „Siehe das ist mein Knecht - ich halte ihn - und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben, er wird das Recht unter die Heiden bringen.“

Und nun spricht in unserem heutigen Predigtwort der Knecht Gottes selber. Seine Zielgruppe, wie man heute sagen würde, ist nicht einfach das alte Bundesvolk, sondern darüber hinaus die ganze Welt: »Hört mir zu, ihr Inseln und ihr Völker in der Ferne, merkt auf!«

Nach dem Abfall der Völkerwelt hatte sich Gottes Heil auf ein einziges Volk, auf Israel verengt. Israel heißt Gotteskämpfer. Israel war nicht das Volk der Erwählung, weil es sich dafür besonders geeignet hätte. Es war das Volk der Erwählung, weil Gott beschloss, mit diesem Volk seine Geschichte fortzuführen. Er wollte in Gericht und Gnade seine Treue an ihm aufzeigen, erkennbar und erlebbar machen.

Aus großer Ferne klingt hier zum ersten Mal auf, was dann im Neuen Testament klar ist: Dass die Erwählung Israels, die in Christus allen Menschen gilt, der Beweggrund war für die Erwählung Israels. 

Friedrich von Bodelschwingh bemerkt einmal: Bei Gott ist es nicht so, wie bei einem Kaufmann, wo eine dem angebotenen Preis entsprechende Menge zuerst in ein Maß geschüttet und erst dann aus dem Maß herausgegeben wird, während Käufer und Verkäufer sorgsam darauf achten, dass nicht etwas zuviel oder zuwenig aus dem Messgefäß kommt. Nein, wer liebt, der verschwendet immer, der gibt immer mehr!

Diese Liebe hat der Knecht Gottes zu verkündigen - und er kann es, weil er selbst der erste Empfänger dieser Liebe ist. Alle seine Gaben, und besonders die größte unter ihnen, den Geist gibt Gott seinem Bevollmächtigten ohne alles Messen, ohne alles Zählen, ohne alle Grenzen.

Die christliche Urgemeinde verstand diese Zeilen auf Christus hin, denn das Wort Knecht, Diener kann gleichzeitig Sohn heißen. In diesen Sohn erkannten sie – und wir bekennen es mit ihnen –Gottes menschgewordene Liebe, die bedingungslos und grenzenlos ist. Der Gekreuzigte ist der vollendete Liebesbeweis des Vaters. Durch sein Leben, aber vor allem durch sein Leiden und Sterben zeigte, was Liebe vermag. Und nun ist die Adresse dieser Liebe die ganze Welt. Sie soll heimgeholt werden zum Herzen Gottes. In Jesus sehen wir das wahre Licht, das uns heimleuchtet. In Vers 6 sagt Gott: „Ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht.“ Mit diesem Wort ist natürlich nicht eine Kerze oder sonst eine Lampe gemeint, sondern die Sonne. Das bezeugt schon der Vers ein wenig später bei Jesaja (Kap. 60): „Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker, aber über dir geht auf der Herr.« Die Religionsgeschichte hat ja immer wieder versucht, die Religionen der Erde von der Evolution her zu erklären. Die Menschheit hätte sich erst vor dem Unbegreiflichen gefürchtet, dann die Geister und Götter erfunden und sei dann zuletzt beim Eingottglauben angelangt. Oder im Bild: Die Menschen hätten zuerst die Kerze erfunden, dann die Lampe, dann das elektrische Licht und zuletzt hätten sie die Sonne vorausgesetzt.

Wir Christen aber wissen, es war genau umgekehrt: Wir Menschen sind Kinder des Lichts und in der Finsternis dieser Welt haben sich die Menschen in den Religionen Lichter angezündet, die ihre Dunkelheit erhellen sollten. Und mindestens eines haben diese Lichter erreicht: Sie haben die Erinnerung und die Sehnsucht wachgehalten an das große Licht; an die Sonne, die endlich aufgehen sollte, um die Finsternis zu vertreiben. Wo immer die Botschaft von Christus zu den Völkern kam, da ist eben dies geschehen. Da musste die Finsternis weichen. Sie wich im Großen, so wie für den Abergläubigen und Ängstlichen die Sonne die Schreckgestalten der Nacht vertreibt. Aber sie wich auch im Kleinen: So, wie vor dem hereinfallenden Tageslicht die lichtscheuen Tiere sich verkriechen. 

So ähnlich wird unser Herz gereinigt, wenn das Licht des Evangeliums hineinscheint. Das kann schmerzhaft sein, manchmal geht es durch Kämpfe und Not. Und doch ist es ein heilsames, ein gnädiges Geschehen. Nicht umsonst spricht unser Wort von spitzen Pfeilen und von einem scharfen Schwert im Munde des Gottesknechtes. Wir wissen ja, was so lichtscheues Getier anrichten kann, etwa an der unteren, der Sonne abgewandten Seite eines draußen liegenden Holzes. Und darum sagen wir, dass dieses Geschehen Gnade ist. Damit ist freilich ein Wort gesprochen, das uns fremd geworden ist. Wenn wir das Wort Gnade hören, dann denken wir mit den Juristen dabei an Begnadigung. Wir meinen damit eine Haltung, die sich scheut vollkommen konsequent zusein. Ein begnadigter Mörder ist ein Mann, der das Glück hatte, davonzukommen. Natürlich hat die wahre Gnade damit nicht das Geringste zu tun. Denn die wirkliche Gnade ist die Kraft der Verwandlung, des Neuanfangs und der steten Veränderung. Schon von einem Menschen, der liebt und geliebt wird, sagen wir: der ist ganz verwandelt, man kennt ihn gar nicht wieder, der läuft nur strahlend durch die Gegend. Wie vielmehr könnte uns die göttliche Liebe verwandeln, die ja die Wurzel und die Quelle aller Liebe in der Welt ist. Denn die göttliche Liebe ist wie alle Wahrheit und wie alles Große ganz einfach. Sie verwandelt uns zu uns selbst. Wer aber zu sich selbst gekommen ist, der ist erlöst, befreit.

Damit sind wir zum Ausgangspunkt unseres Gedankens zurückgekehrt. In seiner Selbstvorstellung ruft der Knecht Gottes die göttliche Gnade aus über die ganze dunkle Welt. Auf unseren Wegen durch die Nacht bieten uns Religionen, Ideologien und Anschauungen Werte und Weisungen an, und wir folgen ihnen auch. Aber Religionen oder Ideologien heilen nicht, sie machen auch nicht sehend. Es gibt nur einen, der heilt, den Heiland, Jesus Christus, den Herrn. Es gibt nur einen, der sehend macht, er, der von sich sagen kann, er sei das Licht der Welt. Wer sich ihm anvertraut, der ist heil und damit heilig. Wer sich ihm anvertraut, wird erlöst von der Sorge um sich selbst. Er wird erlöst von dem Zwang, sich ständig abzusichern und seinem Leben selbst einen Sinn geben zu müssen. Er wird erlöst von dem Kreisen um sich selbst, der Angst, zu kurz zu kommen oder das Leben zu verfehlen. Darum sagt Jesus: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Das Reich ist mitten unter uns, weil der gekreuzigte und auferstandene Christus mitten unter uns ist. Und unser Glaube an ihn hier und heute ist das Zeichen, dass unsere Verwandlung, und das heißt: unsere Erlösung begonnen hat. Und wenn das mit dem Vertrauen nicht geht? „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“, bittet der Vater Jesus – und wird erhört.

Amen.